Alter kommt in Mode

Die Mode entdeckt Ältere und Alte als Zielgruppe. Und das Klischee von den Rentnern in Beige und Grau ist widerlegt. Wer sich wie kleidet, ist keine Frage des Alters, sondern der Persönlichkeit,

„Mit über 60 kann das Leben noch so bunt und aufregend sein“, findet Annette Weber. „Und Mode ist ein Teil davon.“

„Ich habe mein Alter als Vorteil empfunden“, sagt Annette Weber. Die ehemalige Chefredakteurin des Magazins Instyle hat sich mit Anfang 50 neu erfunden: als deutsche Fashion-Influencerin für die fortgeschrittene Zielgruppe, die für ihre Reels am liebsten über die Straßen Münchens flaniert. „Es gab ja Tausende von jungen Mädchen, die etwas vom Kuchen abhaben wollten, aber niemanden mit meiner Erfahrung, der sich wirklich tief mit dem Thema auskannte.“

Heute, mit 64 Jahren, hat Weber über 300.000 Followerinnen und Follower. Als #nettiweber präsentiert sie Trends, erklärt, mit welchen Jackenformen die neuen extrem weiten Jeans am besten kombiniert werden, führt aktuelle Oversized-Looks vor und zeigt auf Instagram, wie das Sommerkleid im Winter getragen werden kann. Immer mal wieder steht sie auch gemeinsam mit ihrer 23-jährigen Londoner Assistentin Cosima McDonald vor der Kamera. Zwei Generationen, ein Look? Oder gibt es bei der Auswahl der Outfits Unterschiede? Eher weniger, sagt McDonald, „Ich bin ein bisschen edgier.“ Aber das sei keine Generationenfrage, sondern eine kulturelle: „Die Engländer sind modisch mutiger.“

Weber steht als Boomerin mit Stil dafür, dass das Klischee vom beigen Rentner überholt ist. „Erst mal: Don’t call it beige“, widerspricht sie und lacht. „Wir nennen es Camel, und es ist die schickste Farbe der Welt!“ Sie spricht dann von den grauen Rentnerinnen und Rentnern, die sie in großen Gruppen als Touristen sieht, wenn sie in ihrer Heimatstadt Speyer zu Besuch ist. „Die Frauen haben Kurzhaarschnitte und beide Geschlechter tragen praktische Funktionsjacken. Make-up? Fehlanzeige. Vielleicht etwas Lippenstift. Auf der Maximilianstraße in München ist das Bild dann ein völlig anderes. Die älteren und alten Frauen sind von Kopf bis Fuß perfekt gestylt. Es kommt also sehr auf das soziale Lebensumfeld und die Möglichkeiten an, wie sich die Generation 50+ präsentiert“, konstatiert sie.
Zwischen High-End-Mode und Funktionsjacken gebe es natürlich auch noch einen Mittelweg. „Am Ende hängt es davon ab, ob ich für andere und mich selbst attraktiv bleiben will“, sagt Annette Weber. Gutes Aussehen sei halt auch ein Stück Arbeit. Nicht umsonst heiße es „Das Beste aus sich machen“.
Auch das Deutsche Modeinstitut (DMI) hat sich aktuell mit dem Thema Mode und Alter beschäftigt. Carl Tillessen, der Geschäftsführer und Chefanalyst, sagt, es gebe bisher viel zu wenig Vorbilder für ältere Menschen. Für ihn ist deutlich, dass sich etwas verändert hat. „Ermutigt durch die positive Resonanz auf kurvige Models, wagt sich die Mode nun an ein Casting, das nicht nur beim Gewicht eine größere Vielfalt zeigt, sondern auch beim Alter“, erklärt er. Prada, Balmain, Armani, Saint Laurent, Dolce & Gabbana – diese Top-Marken schicken auch Ältere auf den Laufsteg. Zum Beispiel die 63-jährige britische Schauspielerin Kristin Scott Thomas und die 68-jährige spanische Schauspielerin Àngela Molina, die bei Miu Miu den jungen Models die Show stahlen. Auch Supermodel Christy Turlington, 55, und Isabella Rossellini, 71, gehören dazu. Beide liefen für Pucci. Ihre Bilder gehen um die Welt und zeigen, dass es nie zu spät ist, sich für Mode zu begeistern.

Die 88-jährige Maggie Smith, von Jürgen Teller noch für die Frühjahrskampagne 2024 von Loewe fotografiert, ist ein weiteres Beispiel. Und nicht das letzte: Whoopi Goldberg, 69, wirbt für die französische Marke Ami, Bob Dylan, 82, wurde von Hedi Slimane für Celine in Szene gesetzt. Die amerikanische Lifestyle-Marke Kith engagiert konsequent gereifte Herren über 50. Adrian Brody, 51, Ed Norton, 55, und Succession-Star Brian Cox, 77, wurden engagiert.

Über 50 ist noch nicht Ruhestand, gewiss, aber nach den bisherigen Maßstäben der Mode kurz vor Methusalem. Seit in den 50-er Jahren die Jugendmode kommerzialisiert wurde, Teenager und Rockabillies als Zielgruppe entdeckt wurden, standen die Jungen im Fokus von Mode, Industrie und Werbekampagnen. Sie galten als noch nicht festgelegt in ihren Gewohnheiten und deshalb beeinflussbar. Zuletzt drehte sich alles um die Generation Z, also die um das Jahr 2000 herum Geborenen. Sie waren das Maß aller Dinge: Ihr Geschmack und ihre Bedürfnisse wurden analysiert. Dass sich die Aufmerksamkeit jetzt mehr auf die Älteren konzentriert, hat einen Grund: „Sie bieten ein großes Umsatzpotenzial“, sagt Carl Tillessen.

Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland hat 2024 eine Studie zum Kaufverhalten der 55- bis 75-Jährigen herausgebracht. Danach tragen sie zu 54 Prozent aller privaten Konsumausgaben in Deutschland bei. 80 Prozent der Befragten besuchen wöchentlich mindestens einmal stationäre Geschäfte und 62 Prozent kaufen ein- oder mehrmals im Monat online ein. Aus gutem Grund hat die Studie also die Überschrift „Babyboomer sind Motor des Konsums“, also die zwischen 1956 und 1965 Geborenen. Für Annette Weber ist Onlineshopping eine perfekte Ergänzung zum Stadtbummel mit der Freundin. „Gerade für ältere Menschen macht es den Einkauf doch viel unkomplizierter. Man kann zu Hause alles in Ruhe ausprobieren, muss sich nicht in enge Umkleidekabinen zwängen, spart sich anstrengende Wege. Meine 86-jährige Mutter ist glücklich, dass es Net-a-Porter gibt.“

30 ist das neue 20, 60 das neue 40!? Da ist was dran. Wenn Mutter und Tochter heute gemeinsam shoppen gehen, bleiben beide oft vor denselben Kleiderständern stehen. Und auch Vater und Sohn werden sich ohne Probleme auf das gleiche Sneaker-Modell einigen können. Früher sei das streng getrennt gewesen, sagt Margot Philippi. Die 63-Jährige führt seit fast 30 Jahren Geschäfte für Damenbekleidung in Köln. Anfang der 80er-Jahre war sie Chefeinkäuferin eines großen Textilkonzerns und verfügte über ein Millionenbudget. Sie kaufte für die Älteren ein: „Die typische Kundin war eine in Blüschen in Pastelltönen, die frisch wirken, so sagte man damals, knielange Faltenröcke gehörten zum Standardprogramm und Jerseyhosen.“ Dass es eine Schnittmenge zwischen junger Mode und der „Stammabteilung“ für die Älteren geben könnte, auf die Idee wäre niemand gekommen. „Eine Frau 50+ in Jeans oder die sich für ein Kleid in leuchtenden Lila entscheidet, das war damals noch mehr als ungewöhnlich“, erinnert sich Philippi.

 

 

Heutzutage schauen bei ihr Töchter, Mütter und Großmütter vorbei. „Am Alter kann ich nicht mehr festmachen, was eine Kundin kaufen möchte“, sagt sie. „Die Bedürfnisse sind in allen Altersklassen individuell.“ Manche Bewohnerinnen eines nahegelegenen Seniorenheims ließen sich gern von ihr beraten und seien experimentierfreudig. „Aber es gibt auch junge Konservative, graue Mäuse in mittleren Jahren oder diejenigen, für die Kleidung vor allen Dingen praktisch sein muss.“

Ältere lieben es jugendlich. Und die Generation Z? Die liebt den Grandpa-Style. Bundfaltenhosen, Cardigans, große Sakkos gehören bei ihnen aktuell zu den It-Pieces. Bequemschuhe des Labels Mephisto, Inbegriff biederer Opa- und Oma-Schuhe, werden laut Wall Street Journal aktuell in schicken Weinbars und Kunsthochschulen in den USA gesichtet.

Wenn sich die Jungen wie die Alten kleiden, gibt es dann überhaupt noch so etwas wie eine dem Alter angemessene Kleidung? Laut The Economist definieren ältere Französinnen die Ästhetik des Alters gerade neu. Bestes Beispiel dafür ist Emily in Paris-Star Philippine Leroy-Beaulieu, 61, deren tiefe Dekolletés nicht nur in der Serie beeindrucken. In der Front Row bei Yves Saint Laurent zeigte sie in einem transparenten nachtblauen Kleid sogar von Kopf bis Fuß sehr viel Haut.

„Ich bewundere Frauen, die dieses Selbstbewusstsein und Selbstverständnis haben“, sagt Annette Weber, “bin da selber aber oldschool. Ich habe lange Beine und bin schlank, trotzdem fühle ich mich in einem Minirock unwohl. Ich finde ihn für mich unangemessen. Aber das ist keine Frage von falsch oder richtig. Jede und jeder muss für sich selbst entscheiden, worin sie oder er sich wohlfühlt. Ich denke, wenn vor dem Spiegel die Frage aufpoppt: „Kann ich das noch tragen?“, dann bedeutet das: besser nicht. Gar nicht unbedingt, weil es nicht gut aussieht. Aber ein Minirock muss mit Selbstbewusstsein getragen werden, sonst sendet er eine falsche Botschaft. Design talks, es sagt etwas über dich aus.“

Philippine Leroy-Beaulieu und Annette Weber sind, im Minirock oder nicht, Role Models – und Ausnahmeerscheinungen. Gut auszusehen ist ein Teil ihres Berufs. „Ich gehe regelmäßig zum Sport, ich ernähre mich gesund“, sagt Anette Weber. Disziplin gehört zu ihrem Selbstverständnis.

Immer mehr Sportswear in der Alltagsmode, elastische Stoffe, Tunnelbundhosen, last but not least Sneaker machen es aber auch Älteren mit nicht ganz so perfekter Figur leichter, etwas passendes Schickes zu finden. Und übrigens, die Funktionsjacken, die Annette Weberbei den Speyerer Touristen missfallen, sind bei den Jungen Teil des Grandpa-Style. Klar, dass das bei 20-Jährigen Witz hat, den realen Großvater aber nicht flotter aussehen lässt. Die Farbe des Jahres, Pantones Mocha Mousse, erinnert allerdings verdächtig an das sogenannte Rentnerbeige und ist auf jeden Fall ein Retro-Farbton. Er wirkt beruhigend, gemütlich, nahrhaft. Die eine oder andere Mokka-Mousse tut der Seele gut in diesen unruhigen Zeiten, auch das ganz unabhängig vom Alter.

Dass ältere Frauen und Männer, schlank, kurvig, mit oder ohne Falten, in Mode und Werbung mehr Aufmerksamkeit gewinnen, ist für Carl Tillessen eine bedeutende Entwicklung: „In Deutschland ist die absolute Mehrheit aller Menschen fortgeschrittenen Alters und/oder übergewichtig“, sagt er. Endlich könnten Modeunternehmen sich dazu bekennen, diese absolut unumgänglichen Zielgruppen zu bedienen, ohne sofort als altmodische Übergrößen-Marke abgestempelt zu werden. Dass hier nun auch die Älteren ihr Recht bekommen, hat damit zu tun, dass sie ein Wirtschaftsfaktor sind, aber auch, dass sich ihr Selbstverständnis ändert. Sie entdecken die Schönheit des Alters.