Auf dem Weg zum Einkauf in meiner konservativen Wohngegend begegnet mir seit einiger Zeit ein Mann im Kleid. Er ist so um die 60, Glatze, schlank, ein maskuliner Typ. Er trägt T-Shirt – oder Hemdblusenkleider, in keiner Weise schrill. Er passt in keine Schublade, weil er nicht aussieht wie ein Mann, der sich als Frau verkleiden will oder gar eine werden möchte. Er ist einfach ein Mann in einem vergleichsweise biederen Kleid. Gar nicht bieder ist, dass er offensichtlich beschlossen hat, sich um Konventionen nicht zu scheren. Vielleicht ermutigt durch Conchita Wurst oder die Männermode, die in ihren Extremen Männlichkeit gerade neu definiert.
Männlichkeit kann auch bis zur Karikatur inszeniert werden
Bald wird es auch für Männer Zeit, den Kleiderschrank fit für den Herbst zu machen. Das Bild vom Mann wird vielfältiger, unübersehbar ist auch unisex ein Thema, das die Modemacher beschäftigt. Auf der größten Männermodemesse, der Pitti Uomo in Florenz, ist der geschlechterübergreifenden Mode sogar ein eigner Pavillon gewidmet. Trotzdem erleben wir parallele Entwicklungen. Auf der einen Seite gibt es Männer, die sich in lange nicht gesehener Weise weiblicher, phantasievoller, prächtiger kleiden, auf der anderen Seite erleben wir den nicht endende Boom der Barber-Shops und Bärte. Männlichkeit kann auch bis zur Karikatur inszeniert werden. Stichwort Bart und Work Out. Allerdings sagt die Hülle ja nicht zwingend etwas über den Inhalt aus. Die sogenannten „Bartmädchen“, kernige Männer mit Holzfällerbärten, springen bei jeder Maus auf den Tisch. Fest steht, wir erleben Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter. Weiblichkeit definiert sich selbstbewusster, immer mal wieder auch mit Hilfe des männlichen Kleiderschranks. Als Inspiration dient allerdings sein Pyjama, nicht der Anzug. Stichwort Pyjamalook. Englands Premierministerin zelebriert ihren Schuhtick in Zebrapumps oder Ballerinas mit Kussmund. Topmodel Cara Delevingne spielt mit ihrer Androgynität und flirtet mit Frauen.
Spannende Zeiten, die von der Mode reflektiert werden. Auf dem Laufsteg rücken Männer und Frauen enger zusammen. Burberry, Bottega Veneta und Gucci etwa haben das Prinzip der getrennten Schauen ab 2017 aufgegeben. Ganz klar, das provoziert auch Widerstand. Dabei bedeuten die neuen Entwicklungen nicht zwangsläufig Angleichung. Im Gegenteil, es geht um eine neue Definition der Unterschiedlichkeit, um Grenzüberschreitungen. Viele Schubladen passen nicht mehr.