In Mailand liefen bei Etro langhaarige Blumenmädchen in Indianerkleidern und Fransencapes über den Laufsteg, bei Missoni lange gestreifte Hippieröcke, auch der Amerikaner Michael Kors folgte bei seiner New Yorker Schau ganz dem 70ies-Revival-Trend. Wer den Eindruck hat, die Mode ändere sich gar nicht so oft, wie gerne behauptet wird, kann sich noch von berufenerer Stelle bestätigt fühlen.
Die H&M-Kreativchefin Ann-Sofie Johansson sagte in einem Interview mit der Fachzeitung Textilwirtschaft in Hinblick auf das Frühjahr 2015: „Ich weiß nicht, ob da überhaupt etwas neues kommt. Wir werden Bestehendes weiterentwickeln.“ Im Grunde, so ihr Fazit nach 25 Jahren in dem schwedischen Unternehmen, gehe es im Wesentlichen jede Saison darum, neuen Kundengenerationen alte Trends im zeitgemäßen Gewand zu zeigen.
Punk ist so ein Dauerbrenner, sagt sie, und man darf ergänzen, momentan eben ganz eindeutig auch der Blumenkinderlook der 70er. Wer sich umschaut, was den Designern für dieses Frühjahr eingefallen ist und was auch schon für den nächsten Herbst gezeigt wurde, kann in Versuchung geraten, nach Rüschenblusen, Lammfellmänteln, Fransenwesten, natürlich Blumenkleidern und – ganz wichtig – Schlaghosen im eigenen Fundus oder vielleicht auch secondhand zu suchen.
Die Siebziger beginnen tatsächlich schon in den Sechzigern
Nicolas Ghèsquiere für Louis Vuitton war letztes Jahr einer der ersten, der die 70er-Karte wieder voll gespielt hat. Seine Paisley- und Op-Art-Muster oder auch der Samt der Kleider waren eindeutig inspiriert von den Jahren des Love & Peace. Ganz auf Siebzigerjahre-Flair setzte auch das Designteam von Max Mara mit Blumenprints im wahrsten Sinne des Wortes von Kopf bis Fuß. Hut, Kleider und Stiefel werden in diesem Frühjahr im gleichen fröhlichen Blumenmuster angeboten. Der neue Gucci-Designer Alessandro Michele hat für den Herbst 2015 Looks gezeigt, die bewusst so aussehen, als seien sie auf einem – wenn auch sehr luxuriösen – Flohmarkt zusammengestellt.
Da finden sich romantische Rüschenkleider, Military-Mäntel, Schluppenblusen, androgyne Anzüge und immer wieder trägt eines der Models eine Baskenmütze, die wie beiläufig aufgesetzt aussieht – und vor allen Dingen auch sehr nach 70er. Die Bandbreite der Schau und auch ihre innere Gegensätzlichkeit macht deutlich, warum die 70er modisch so attraktiv sind: Sie sind ganz einfach ein weites Feld. Was wir als „70er-Jahre“-Look empfinden, beginnt tatsächlich schon in den späten 60ern.
Dazu gehören die gleichzeitig adretten und sexy Kleider in A-Linie genauso wie der Look der Hippies von Woodstock 1969. Die 70er haben aber auch eine Glamour-Seite, wenn man etwa an den Jet-Set-Chic von Mick und Bianca Jagger denkt, an Diana Ross oder auch John Travolta, die alle in den späten 70ern in New York im legendären Nachtclub Studio 54 feierten und sich dafür ziemlich herausputzten. Und dann entstand auch noch der Punk-Look Mitte der 70er Jahre in London – wenn man ihn auch gefühlsmäßig eher den 80ern zuordnen möchte. Die 70er sind also ein langes, vielfältiges Jahrzehnt mit unterschiedlichsten modischen Facetten, das ganz allgemein aber für Aufbruch und Umbruch, für den Ruf nach Frieden und sexueller Befreiung steht. Wer wollte das nicht mögen? Und Frieden, gesellschaftliche Umbrüche, Freiheit und Gleichheit sind Fragen, die uns weiter und momentan wohl ganz besonders beschäftigen. Nicht zu unterschätzen ist sicher auch, dass die mittlere Designergeneration, die gerade modisch in der Verantwortung steht, in den 70ern aufgewachsen ist. Viele sind Kinder der sogenannten 68er. Nicolas Ghèsquiere und Alessandro Michele etwa sind Anfang der 70er geboren. Auch der Rock-Chic von Hedi Slimane (Jahrgang 1968) ist von den 70ern inspiriert. Die zerrissenen Strümpfe, die die Groupie-Models seiner letzten Schau trugen, erinnern schon an den Stilbruch, der mit der Punkgeneration einsetzte.
Die Mode befreit, stellt keine allzu strengen Regeln mehr auf.
Welche modischen Schlüsse gilt es für das Heute zu ziehen? Auf keinen Fall sich zu kostümieren und in eine Siebzigerjahre-Verkleidung zu schlüpfen. Auch die Looks auf den Laufstegen sind nicht dazu da, sie eins zu eins in den Alltag zu übertragen. Die Botschaft des 70er-Looks – den es ja bei genauerem Hinsehen so eindeutig gar nicht gibt – ist der, modisch mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Blumendrucke, Fransen, Samt und Seide, große Hüte und Sonnenbrillen, weite Hosen und hohe Bünde, die Requisiten der 70er zeitgemäß zu tragen, bedeutet einen individuellen Mix zu finden. Suchen Sie aus dem Angebot aus, was zu Ihnen passt, gute Laune macht und sich in die vorhandene Garderobe einfügt. Erzählen Sie mit Ihrem Outfit eine Geschichte. Kombinieren Sie Neues und Altes, folgen Sie Ihrer Stimmung bei der Wahl der Farben und der Rocklänge. Die 70er Jahre sind in der Erinnerung eine Zeit der Befreiung, heute befreit uns die Mode von allzu strengen Regeln und stellt damit eine neue Aufgabe. Sie verlangt nämlich Persönlichkeit und die Entwicklung eines individuellen Stilgefühls. Die Kleider der Kollektionen sind die Teile des Baukastens, aus dem wir unser modisches Selbst zusammensetzen können. Mit Phantasie und Spaß. Niemand wird mehr ein Modediktat durchsetzen können oder wollen. Lee Edelkoort, seit Jahrzehnten die weltweit wohl gefragteste Trendforscherin, hat sogar die Mode, wie wir sie kennen, für tot erklärt. Sie selbst interessiere sich nur noch für Einzelteile. Die Modenschauen, wie sie heute abliefen, seien reine Marketingveranstaltungen losgelöst vom normalen Leben. In Zeiten der digitalen Revolution, in der Bilder in Sekundenschnelle um die Welt gingen, seien Modenschauen kein Ereignis mehr, das Emotionen wecken könne. Kann man so sehen, muss man nicht. Die Modenschauen des Belgiers Dries Van Noten – der Designer war in den 70ern ein Teenager – zum Beispiel sind Inszenierungen, die kaum jemanden kalt lassen. Am Ende der Schau für dieses Frühjahr ließen sich die Models auf einer Blumenwiese nieder. Wer mochte, konnte das als Sit-in verstehen, eine Protestform, die die 68er kultiviert haben.
Handwerklichkeit als Gegenpol zur Massenproduktion
Bei Dries Van Noten schien es um gewaltfreien Protest gegen die Beschleunigung des Lebens im allgemeinen und der Mode im Besonderen zu gehen. Durch den immer schnelleren Rhythmus von Haupt- und Nebenlinien, von Zwischenkollektionen wie Pre-Fall oder Cruise bleibt den Designern keine Zeit, Neues zu kreieren, Kreativität Raum zu geben. Genau diese Argumente nannte Jean Paul Gaultier auch als Grund für seinen Ausstieg aus der Tretmühle des Schauenreigens der Prêt-à-porter, das Designerduo Viktor & Rolf folgte ihm. Sie widmen sich von nun an ganz der feinen Haute Couture, die schon immer das Labor der Mode war, deren Salons aber nur besuchen sollte, wer sich Kleider im Wert eines gediegenen Mittelklassewagens leisten kann. Hier sieht die Trendforscherin Edelkort die Zukunft der Mode. Die Couture, wie es früher einmal war, als Vorbild für Kleider, die man sich dann am besten selber nachschneidert. Handwerklichkeit als Gegenpol zur Massenproduktion, auch das eine Idee der 70er. Da wurde selbst gebatikt oder gestrickt, Perlen aufgereiht und genäht. Sind die 70er also das Trendthema der Saison? Anna Wintour, berüchtigte Chefin der amerikanischen Vogue, gab während der Fashion Week zu Protokoll, das Wort Trend sei ein „schmutziges“ für sie. In der Mode gehe es heute vor allen Dingen darum, dass die Kleider den Charakter einer Frau ausdrückten. Ein Anspruch, der modischen Frauen und Männern einiges abverlangt, aber auch den Spaß an der Mode und an eigener Kreativität steigern kann. Trend hin oder her, die vielen Facetten der 70er sind eine gute Inspirationsquelle, genauso wie die Vorschläge der Designer auf den internationalen Laufstegen.