Mit Aufräumen und Ausmisten haben viele von uns die Wochen des ersten Shutdowns sinnvoll genutzt. Da wurden Keller entrümpelt und geordnet, aus den hinteren Ecken des überquellenden Kleiderschrankes manches kaum getragene Teil in den Sack für die Altkleidersammlung gesteckt. Nur auf uns selbst zurückgeworfen und mit unserm Krempel allein zu Hause wurde besonders deutlich: Wir haben von vielem sehr viel, und es macht uns nicht glücklicher. Der weltweite Erfolg der Aufräumexepertin Marie Kondō ist ebenfalls ein Symptom dieser Diskrepanz zwischen „haben wollen“ und dann gar nicht mehr nutzen wollen oder können. Genau mit der Frage „Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ beschäftigt sich das im Herbst erschienene Buch „Konsum“ von Carl Tillessen. Bis 2014 war er mit seiner Partnerin der Kopf hinter dem Modelabel „Firma“, dessen sachliches Design weltweit erfolgreich war. Dann mussten immer mehr der vielen kleineren Geschäfte, die die wichtigsten Verkaufsstellen des Labels waren, aufgeben. Sie waren der Konkurrenz der großen Ketten und zunehmend auch des Online-Handels nicht mehr gewachsen. Wie Globalisierung und Digitalisierung unser Konsumverhalten verändert haben, hat Tillessen also am eigenen Leib erfahren. Jetzt beschäftigt er sich als Chefanalyst des Deutschen Mode-Instituts unter anderem mit diesen Themen und berät Unternehmen in Bezug auf Einzelhandel. Mit grau meliertem Bart und voller Haartolle wirkt der Dreiundfünfzigjährige wie ein distinguierter Hipster. Bandring am Finger, schlammfarbenes Shirt, schwarze Stoffhose, Budapester Schuhe: Tillessen ist klassisch zeitlos gekleidet. „Ich habe kaum Sachen in meinem Kleiderschrank, die ich nicht trage“ lächelt er, „aber, ich bin auch noch weit davon entfernt, immer ein verantwortungsvoller Verbraucher zu sein, der nur konsumiert, was er wirklich braucht. Die Arbeit am Buch war für mich selbst eine Aufarbeitung vieler Dinge, die ich eigentlich wusste, mir aber nicht ausreichend bewusst gemacht hatte – obwohl ich mich schon so lange mit den Themen beschäftige.“ Tillessen ist keiner der Sack und Asche predigt, sich im Rahmen einer Konsumdiät aber jetzt selber öfter fragt: „Werde ich wirklich nutzen, was ich gerade aus einem Impuls heraus kaufen möchte?“
Themen wie Kinderarbeit oder moderne Sklaverei sind Stimmungskiller. Da redet man dann doch lieber übers Wetter.
Weder belehrend noch moralisierend, dafür informativ und mit zahlreichen Anmerkungen unterfüttert, fasst Tillessen in „Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ zusammen, wie die Globalisierung grenzenlosen Handel möglich gemacht hat und was das für Konsequenzen hat. Da gerade in der Textilindustrie immer noch viel Handarbeit notwendig ist, wurden viele Produktionen in Billiglohnländer verlegt. Menschenunwürdige Arbeitsplätze, Kinderarbeit, moderne Sklaverei sind die Folge. Carl Tillessen geht streng mit der Branche um, für die er tätig ist. „Natürlich gab es global immer Ungerechtigkeiten und Unterschiede im Lebensstandard. Neu ist, dass wir durch unsere Politik und unser Konsumverhalten direkt mit dafür verantwortlich sind. Der Nächste, den wir nach christlicher Vorstellung lieben sollen, ist jetzt nicht mehr nur der Nachbar, sondern auch ein Textilarbeiter in Bangladesh“. Das wird, so Tillessen, gerne verdrängt. Während nachhaltige Mode, Party-Plaudereien über Bio-Baumwolle und recycelbare Sneaker inzwischen fashionabel sind, ist das Thema Kinderarbeit oder moderne Sklaverei ein Stimmungskiller. Da redet man dann doch lieber übers Wetter.
„Auch teurer zu kaufen ist keine Garantie für faire Produktion, es macht sie aber immerhin wahrscheinlicher“, meint Tillessen. Viele Preise sind unerklärlich geworden. In die eine und die andere Richtung, sie haben sich vom Wert der Dinge entkoppelt. 1100 Euro für ein Gucci-Sweatshirt aus Baumwolll-Jersey ist genauso unrealistisch wie ein Primark Jersey-Midikleid für 19 Euro. Wer es sich leisten kann, kauft das Designerteil, weil es ihm das Gefühl von Exklusivität gibt. Das preiswerte Kleid fühlt sich fast wie geschenkt an. Beides zu kombinieren gilt als besonders smart. „Mittlere Preislagen, die vielleicht am ehesten dem Wert eines Gegenstandes entsprechen, turnen uns ab“, sag Tillessen, „mit ihnen fühlt man sich weder exklusiv noch clever.“
Das Sterben des individuellen Einzelhandels, die Frage, ob Online-Shops die sinnliche Erfahrung im Geschäft ersetzen können, sind andere Themen des Buches. Tillessens These: Stationäre Geschäfte werden zunehmend Appetizer für den Konsum in Netz sein. Hier entdeckt man, da wird gekauft.
Die Frage warum Globalisierung und Digitalisierung den Konsum so anheizen und uns dazu verleiten, zu kaufen, was wir nicht brauchen, ist damit natürlich noch nicht geklärt. Plakativ lässt sie sich so beantworten: Weil wir es können und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag zu unerhört günstigen Preisen. Der globale Konsum an Kleidung hat sich seit 1960 verneunfacht, seit 1980 versechsfacht und allein zwischen 2000 und 2015 verdoppelte sich die verkaufte Menge nochmal. Das zeigen Untersuchungen, die Tillessen im Anmerkungsapparat anführt. „Der Preisverfall entwertet die Dinge. Ein T-Shirt für drei Euro, eine Hose für weniger als zehn Euro, da muss man nicht darüber nachdenken, ob man sie wirklich braucht. Man nimmt sie einfach mit“, erklärt der Autor. „Was früher Kleidungsstücke waren, sind jetzt Klamotten geworden. Es gibt keinen Grund mit ihnen sorgsam umzugehen oder sie gar zu reparieren. Man kann ja einfach neue kaufen.“
Jeder Post ist ein ‚großer Auftritt‘
Millenials sind damit aufgewachsen sich quasi jeden Wunsch per Mausklick oder mit einem Wisch rund um die Uhr erfüllen zu können. Algorithmen erkennen wofür sie sich interessiert haben oder interessieren könnten und bieten bei jedem Blick auf Smartphone, Laptop oder Tablet verführerische Produkte an. Onlineshopping ist zum Entertainment geworden, und Konsum im Netz führt zunehmend zum Konsum fürs Netz. „Früher haben wir ein neues Outfit Freunden präsentiert oder im Club vorgeführt, also einem überschaubaren Kreis von Menschen. Für einen großen Auftritt wurde etwas Neues gekauft. Das Posten von Selfies in neuen Looks auf den sozialen Netzwerken hat diese vergleichsweise kleine Gruppe jetzt ins Globale erweitert. Jeder Post ist gewissermaßen ein ‚großer Auftritt‘, und da darf man natürlich nicht zwei Mal das Gleiche zeigen“, erläutert Tillessen. Nach einer Greenpeace-Studie wird jedes fünfte Kleidungsstück nur noch ein- oder maximal zweimal getragen. Der Hashtag „Outfit of the day“ zeigt die Lebensdauer eines Looks auf Instagram präzise an. So stellte sich zum Beispiel bei einer Umfrage in Großbritannien heraus, dass jeder Zehnte Kleidung kauft, nur um sich für Social Media darin zu fotografieren und sie dann – sobald das #outfitoftheday online ist – wieder an den Händler zurückzuschicken. „Lustkäufe im Netz und die Selbstbestätigung durch das Posten des eigenen Lifestyles in den sozialen Medien verstärken sich gegenseitig, sie machen sogar süchtig“, meint Tillessen. Jüngere wissenschaftliche Untersuchungen, etwa des Sozialpsychologen Adam Alter, haben gezeigt, dass bei Lustkäufen dieselben biochemischen Prozesse in Gang gesetzt werden wie bei der Einnahme von Kokain oder Amphetaminen. Das Gehirn wird mit Dopamin geflutet. Es ist das gleiche Glückshormon, das sich in unserem Körper ausbreitet, wenn wir verliebt sind. Da versteht man, warum das Kaufen eine so erstaunliche Macht über uns hat und warum wir davon nie genug bekommen können.„Die Globalisierung hat unseren Konsum erhitzt die Digitalisierung bringt ihn zum kochen“, fasst Tillessen zusammen. Was ist zu tun? Noch gilt ein Post der 150 Sneakers im Regal als cool. Die sozialen Medien könnten jedoch auch eine Gegenbewegung einleiten. „Pelz zum Beispiel ist durch Social Media zum No-Go geworden, Tierschutz generell ein riesen Thema. Das könnte auch für andere Bereiche möglich werden“, hofft er.
Unser Konsum macht unseren Wohlstand aus, und hat gleichzeitig eine zerstörerische Komponente für Mensch und Umwelt. In diesem Zwiespalt befinden wir uns. Aber an der Erkenntnis, dass für ein Drei-Euro-Shirt irgendjemand anders auf der Welt einen Preis zahlt, kann sich niemand mehr vorbeimogeln. „Bloß weil etwas woanders erlaubt ist, kann das kein Grund sein, dass wir es bei uns akzeptieren. Kinderpornografie ist, egal woher sie kommt, bei uns selbstverständlich verboten. Das sollte genauso auch für Produkte gelten, die im Ausland mit Kinderarbeit, moderner Sklaverei und vorsätzlicher Umweltzerstörung hergestellt werden. Das Lieferkettengesetz ist ein erster Schritt auf dem Weg dahin“, sagt Tillessen. Sein Buch „Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ ist gerade in den konsumfreudigen Wochen der Vorweihnachtszeit gut geeignet, um mal innezuhalten und sich beim Lesen der gut 200 Seiten überzeugend klar zu machen, was man im Grunde seines Herzens schon weiß: So geht es nicht weiter!