Kuschelzeit

Samt und Seide sind wie Milch und Honig, Begriffspaare, bei denen ein wohliger Schauer den Körper durchzieht. Sie künden von Überfluss, Luxus, Sorglosigkeit. Samtweich ist nicht nur der gleichnamige Stoff, samtweich werden auch besonders schöne Stimmen genannt oder zarte Kinderhaut. Hinter dem blauen Samtvorhang, der den Film Blue Velvet eröffnet, verbirgt sich allerdings eine trügerische Idylle. Samtweich ist hier nichts. Hier öffnen sich Abgründe. Samt ist also ein Stoff, der vielerlei Assoziationen zulässt: erotisch bizarre Fantasien genauso wie das Bild vom Weihnachtsmann. Modisch gesehen stand er in der letzten Zeit etwas in der tantigen Ecke. Ein Samtkleid? Vielleicht geeignet für die Konfirmation, auf dem Catwalk eher unwahrscheinlich. Nun ist es die Aufgabe der Mode, zu überraschen, und da kommt der Samt gerade recht. Da sich die Branche gerne auch als Zeitgeistbarometer sieht, bietet es sich natürlich an, zu vermuten, dass zum Ausgleich krisenhafter Weltläufe die Kleidung die Haut zum Trost streicheln sollte – am besten von morgens bis abends. In diesem Herbst haben sich die Modemacher nämlich vorgenommen, Samt, der bislang eher ein Stoff für festliche Anlässe war, straßentauglich zu machen.

Schuhe, Casadei Herbst/Winter 2016/17, Samtsofa von Moroso, Roberto Cavalli Sommer 2017 Dolce & GabbanaWinter 2016/17, Prada Winter 2016/17

Heute ist Samt nicht mehr ganz so feinfühlig

Die internationalen Designerschauen präsentierten den sanft schimmernden Stoff auf ganz vielfältige Weise: Es wurden bestickte Samtkleider gezeigt, weich fließende Röcke und Hosen und auch samtene Stiefel.Stella McCartney überraschte mit einem Daunenmantel aus Samt, Haider Ackermann zeigte eine Mantel-Hosen-Kombination aus Knittersamt. Auch, um nur einige Beispiele zu nennen, bei Alexander Wang, Dries van Noten, Hedi Slimane oder Gucci gehört Samt zum modischen Bild. Es besteht also kein Zweifel, dass einem bei der nächsten Shoppingtour auch jenseits nobler Designerstores Samtiges begegnen wird.Bis ins späte Mittelalter war der feine Stoff, der aus dem Orient nach Europa transportiert wurde, übrigens den höheren Ständen vorbehalten und es gab nur den besonders kostbaren, aber auch sehr empfindlichen Seidensamt. Heute wird Samt auch aus Baumwolle, Viskose und Synthetics hergestellt und ist dann nicht mehr ganz so feinfühlig. Trotzdem gilt, Samtstoffe besser nicht falten, sondern aufhängen. Wenn die Textur „gebrochen“ ist, geht die schöne charakteristische, glänzend weiche Oberfläche verloren.

Absolut en vogue mit Strick kombiniert

Samt von morgens bis abends ist natürlich nicht gleichbedeutend mit Samt von oben bis unten. Als modischer Kick ist er bestens geeignet, einen Look zu ergänzen.Mit Samt total entsteht schnell der Eindruck, man wäre auf dem Weg zur eigenen Krönungsmesse oder – schlimmer – trage den alten Vorhang auf wie einst Scarlett O’Hara. Modern und neu wirkt Samt in Kombination mit Jeans und auch zu Strick oder Leder. Samtblazer und T-Shirt oder Baumwollhemd mit Samtrock, so wird das traditionelle Material zeitgemäß gestylt. Auch mit Strick kombiniert, flauschig oder grob, ist Samt absolut en vogue. Da wird dann das modisch zeitgeistige Kuschelbedürfnis noch multipliziert. Samt in Schwarz und dunklem Blau wirkt edel und ist nie verkehrt, bleibt aber doch eher dem Abend vorbehalten. Frischer, moderner, überraschend und dabei „alltäglicher“ ist zum Beispiel gelber Samt, wie ihn Phillip Lim für eine Bikerjacke verwendet. Auch die samtene Puffärmelbluse in Kirschrot des New Yorker Designers Derek Lam ist ein Beispiel für Samt reloaded.

Übrigens, auch Männer dürfen natürlich Samt tragen

Rosa, Rot, Petrol oder Violett sind andere Farben, in denen Samt, lässig kombiniert, überhaupt nichts Altbackenes hat. Noch Bedenken? Man kann sich ja vorsichtig an das Thema heranwagen. Mit Accessoires lassen sich bekanntlich viele Kleider auch aus der vorletzten Saison zum Hingucker der neuen aufbrezeln. Das funktioniert natürlich auch mit Samttaschen, Gürteln, Schuhen und Haar-Accessoires, die passend zum Trend angeboten werden. Übrigens,auch Männer dürfen natürlich Samt tragen. Er wird bei ihnen allerdings – wie auch immer man ihn kombiniert – ein bisschen dandyhaft wirken, was aber überhaupt nicht verkehrt, sondern angesagt ist. Ein Samtsakko in petto zu haben, kann also nichts schaden. Zur Jeans oder Stoffhose kombiniert passt es in den Club oder in die Oper. Samtschuhe wären noch eine Empfehlung für den modemutigen Herrn. Fiat-Erbe und Fashionisto Lapo Elkann ist das Role Model dafür. Samtslipper gehören neben den breiten Revers seiner Anzüge zum Markenzeichen dieses „Best Dressed Man“. Wer sich erstmal für den königlichen Stoff begeistert hat, wird feststellen, dass man ihn nicht nur am Leibe tragen, sondern auch in der Wohnung gut gebrauchen kann. Interieurdesigner wissen die behagliche Wirkung und den edlen Glanz von Samt wieder zu schätzen. Ob in dunklen kräftigen Farben oder Pastelltönen, Samt verleiht einem Raum Charakter. Gerade im Kontrast zu minimalistisch reduzierten Formen ist seine Opulenz spannend. Los geht es mit einigen Kissen, dann könnte natürlich das Sofa neu bezogen werden. Wenn Sie damit liebäugeln, auch noch die Wände samten zu tapezieren, sollten Sie allerdings einmal kurz innehalten. Man kann es auch übertreiben. Aber warum eigentlich nicht?