Ob Möbelmesse oder Fashion Week, immer sucht man nach dem Überraschenden, dem am besten noch nie Gesehenen. Das lässt sich im Jahr 2019 auch auf dem Salone del Mobile in Mailand nicht finden, obwohl er die größte und wichtigste Möbelmesse weltweit ist. Ein Stuhl kann eben genauso wenig neu erfunden werden wie Rad oder Hose. Was man sieht, sind Varianten des Bekannten. Veränderungen entstehen vor allen Dingen über Materialien, Technik und Farben. Das Neue ist oft gewissermaßen unsichtbar und muss „erfahren“ werden. Die Deckenlampe geht an, sobald sich die Gäste an den Tisch setzen, und wird durch Handbewegung gedimmt. Licht verändert die Farben von Oberflächen, Soundsysteme in Nachttischen, sich magisch öffnende Backöfen oder Weinschränke, in denen die Flaschen – individuell erleuchtet – präsentiert werden wie Museumstücke machen das Leben smarter, den Menschen allerdings auch abhängiger von, zum Beispiel, Elektrizität. Besonders deutlich wird das beim Besuch der Villa des italienischen Designers Osvaldo Borsani im Mailänder Vorort Varede. Erbaut wurde das von außen funktional nüchterne, im Inneren funktional luxuriöse Gebäude Anfang der 40er Jahre. Bei Borsanis Entwürfen für seine Firma Teco ist die Mechanik, etwa beim Klappsofa „D70“, dessen Prototyp in der Villa steht, oft Teil des Designs. Auch beim Kleiderständer „AT 16“ oder dem Sessel P40 liegt es in der Macht des Nutzers und seiner Muskelkraft, das Möbel in die gewünschte Position zu bringen. Wenn zum Abschluss der Führung die Hausbar mit Hilfe einer Konstruktion aus Fahrradketten geöffnet wird, wirkt das insofern beruhigend, als klar ist, hier kann man den Stromausfall ganz sicher mit dem Whisky Tumbler in der Hand überdauern. Andererseits, das darf nicht verschwiegen werden, wirkt diese Multifunktionalität, dieses Verstellen und Verändern auch ein wenig mühselig und oldfashion-ed. Heute geht es aber sowieso nicht mehr darum, den Couchtisch auf die Höhe eines Esstisches zu kurbeln. Das moderne, smarte Wohnen verändert das Leben auf einer gewissermaßen höheren Ebene. Es ermöglicht, wenn denn alles funktioniert, einen bislang unbekannten Komfort. In den Vordergrund rücken Klimazonen, Licht- und Musikstimmungen, die das seelisches Erleben spiegeln oder beeinflussen. Wohnen wird zum Transzendenz-Erlebnis. Dass Kühlschrank und Kaffeeautomat Wünsche quasi ahnen – nicht mehr der Rede wert. Wohnen, und das ist wohl das Wichtigste zurzeit, soll Gelassenheit ausstrahlen. Gerade auch, wenn es es sich um repräsentative oder Arbeitsräume handelt. Interior und Technik nehmen uns Mühen und Anstrengungen ab. Das Heim als Ruheraum für mich und meine Besucher. High Tech macht dabei das gute, alte Handwerk – die Handarbeit – ganz und gar nicht unverzichtbar. Im Gegenteil! Es gibt ein Bedürfnis nach reeller Handarbeit. Korbstühle, Keramik, Ethno-Look, Holz und Stein nehmen technischen Innovationen die Kühle. Handwerkliches gibt Seele. Dazu passt auch das Thema der neu aufgelegten Klassiker oder der dekorativen Accessoires vom Trödelmarkt, die für gelebtes Leben stehen und auch Messeständen Charme verleihen. Wer nicht selbst selbstverständlich ein Auge für schöne Dinge hat oder keine Zeit für den Flohmarkt, kann kaufen oder kaufen lassen vom Innenarchitekten der Wahl. Bis zum Exzess getrieben wird der Wunsch nach Individualität und „Leben“ im Eklektizismus der Gucci Home Kollektion. Kitsch und Kunsthandwerk, Neues und scheinbar Altes, schrille Muster, Pressglas und Hotelsilber, Plüsch und Chintz treffen hier papageienbunt zusammen. Das kann man amüsant finden, aber auch ein bisschen verzweifelt. Ohne Frage ist es überteuert. Vielleicht sind die Preise. Ein kitschiges Kissen um die 1000 Euro – Teil einer ironischen Inszenierung? Diesen Sinn für Humor muss man sich dann leisten können.
Drinnen und Draußen
Ein anderes Wohn-Thema bleibt das Verwischen der Grenzen zwischen drinnen und draußen. Topfpflanzen geben dem Wohnzimmer Terrassenflair, der Garten wird zur Designerküche, Sofa, Stehlampe und Sesseln zum Wohnraum. Die neuen Gartenmöbel, man kann sie selbstverständlich in Wind und Wetter stehen lassen, sind auch innen gut aufgehoben. Im Winter, zum Beispiel, könnten sie hier Sommerfeeling entstehen lassen. Ihre wetterbeständigen High-Tech-Stoffe sind kaum von den Indoor-Qualitäten zu unterscheiden. Natürlich ist auch dieses Thema nicht wirklich neu. Deutlich macht das die Architektur Richard Neutras, dessen berühmtes VDL Penthouse von 1963 jetzt in einer modernisierten, aber in der Architektur identischen Variante, von Kettal, Hersteller exklusiver Outdoor-Möbel, angeboten wird. Öffnet man die großen Schiebetüren des Hauses, verschmelzen seine beiden Räume quasi mit dem Garten. Wie praktisch, wenn das Mobiliar dasselbe ist.
Relaxte Farben
„Dead Salmon“ heißt ein Farbton von Farrow & Ball. Wer auf sich hält, streicht sein Wände längst mit den Farben des englischen Unternehmens. „Dead Salmon“, ein tiefes Lachsrosa, ist in vielerlei Abstufungen bis hin zu Terrakotta die Farbe der Saison. Auch wenn „Dead Salmon“ vornehmer britischer Abstammung ist, weckt die angesagte Farbskala eher Erinnerungen an die sechziger bis siebziger Jahre in Skandinavien oder Deutschland. Senfgelb, Türkis, Violett und Braun ergänzen die dunkel-müden Rottöne. Sie alle schaffen eine, wenn auch nicht bunte, so doch einigermaßen offensiv farbige Wohnkulisse. Diese insgesamt warmen Farbtöne tragen zu der gewünschten wohnlichen, warm lebendigen Atmosphäre moderner Inneneinrichtung bei. Sie passen zu den Flohmarkt-Accessoires, zu den Vintage Möbeln und geben modernen Formen einen Retro-Look, der ihnen die Strenge nimmt. Die angesagten Farben strahlen gedämpften Optimismus aus, machen das Zuhause zum Nest, wirken vertraut und neu zugleich. Nicht die schlechteste Kombination. Grand Relax heißt übrigens ein neuer kompakter Ruhesessel von Antonio Citterio für Vitra. Cognacbraun umarmt er den Benutzer, der beim Hineinsetzen in weiche Kissen sinkt. Mit einer im Sessel verborgenen Synchronmechanik kann er sich in die gewünschte Ruheposition bringen. Womit wir wieder bei Osvaldo Borsani wären. Seine multifunktionalen Möbel sind wohl doch noch stilprägend. Das Bedürfnis, Entspannung und Bequemlichkeit mit Stilbewusstsein in Einklang zu bringen, war selten größer.
Im Jahr des Bauhaus Jubiläums geht es darum, die schöne Form mit Leben zu erfüllen, Komfort und Design zu versöhnen. Dekoration ist ausdrücklich erlaubt.