Schön Anzüglich!

Gentleman!? Klingt irgendwie antiquiert. „New Formal“ dagegen wirkt schon zeitgemäßer. Um diese neue Formalität – also die Frage, wie der moderne Mann zeitgemäß, elegant und wie ein Gentleman 2020 aussehen kann – kreisten die Überlegungen der über 1200 Aussteller und etwa 36.000 Besucher der Pitti Uomo. Immer noch waren reichlich Kleiderstangen vollgehängt mit der seit Jahren gehypten Streetwear, also Jeans, Chinos und Jogpants, Hoodies und Sweatshirts. Aber ohne Frage gibt es eine Gegenbewegung. Wie passend, dass ein so traditionelles Label wie Brioni – ja genau: der Kanzler-Ausstatter – 75 jähriges Jubiläum auf der Pitti feierte. Gleich am ersten Messetag führten klassische Musiker im Renaissance Palast Gerini vor, wie elegant und lässig zugleich italienische Schneiderkunst aussehen kann. Der Oboist trat zum Beispiel im schwarzen Zweireiher mit haselnussbraunen Pullover auf, das Fagott im anthrazitfarbenen Hirschledersakko und dunkelblauem Rolli. Einen besseren Auftakt hätte es nicht geben können.

Traditionell halten sich auf der Pitti Avantgarde und Tragbarkeit eine angenehme Balance. In den Messehallen wird kommerziell modisches angeboten. Die von der Messe mit Bedacht eigeladenen Gastdesignern zeigen zusätzlich in eigenen Schauen die Avantgarde der Mode. In der Regel finden sich deren Ideen einige Saisons später und für den Alltag runtergebrochen dann auch in den Messehallen wieder.

Divers und genderless

 

 

Special Guests waren dieses Jahr das Schweizer Paar Lucie und Luk Meier, das seit 2017 Jil Sander Kollektion verantwortet, der New Yorker Street Wear Star Telfar Clemens und der in Berlin lebende Italiener Stefano Pilati mit seiner Random Identity Kollektion – ein Highlight unter den special events. Das Casting der Schau war das Abbild einer diversen Gesellschaft: Junge und ältere, androgyne und maskuline, kräftige und spindeldürre Jungs, und auch der Designer selbst, zeigten präzise geschnittene Anzüge, Röcke und Kleider. Begriffe wie Herren- oder Damenmode interessieren die Random Identitiy, die „zufällige Identität“, nicht. Die Hosen sind oft weit, die Sakkos verkleinert oder oversized. Plateaustiefel und Sandalen, letztere in Kooperation mit Birkenstock entstanden, geben den Looks einen zusätzlichen Twist. Accessoires, wie Silberketten oder karierte Strickschals, ergänzen die Outfits, ohne sie überzudekorieren. Französische Eleganz (Pilati war mehrere Jahre auch Chefdesigner bei Yves Saint Laurent), italienische Schneiderkunst und Berliner Underground finden hier kongenial zusammen und definieren Eleganz auf zeitgemäße Weise. Anders als seine Kollegen und Kolleginnen denkt Pilati nicht in Saisons. Er versteht seine Kollektion als ständige Weiterentwicklung, sie ist quasi evolutionär. Teile bleiben, Teile verschwinden, neue kommen hinzu.

Auch bei der Jil Sander Kollektion für den Winter 2020 / 2021 spielen Anzüge und Sakkos eine wichtige Rolle. Auch bei ihr haben sie nichts mit dem klassischen Business Kostüm alter Schule zu tun. Die Schau fand im Refektorium des berühmten Klosters Santa Maria Novella statt. Fast sakral wirkten denn auch die oft überlangen Jacken und Hosen mit den breiten Umschlägen. Tunika artige Überwürfe, die weiten Mäntel und die Schals mit den langen Fransen verstärken den zeremoniellen Eindruck der Kollektion, genauso wie der starke Duft der Berge von Tagetesblüten, an denen die Models vorbeiliefen. Schmuckknöpfe setzen ethnische Details. Mantel, Anzug und Jacken sind monochrom in einem Farbton: schwarz, creme- und burgunderfarben.

An der Telfar Kollektion scheiden sich die Geister. Der 35-jährige New Yorker Designer, ein Kind aus Queens, ist Star der Streetwear-Szene. Die ballonartigen Jeans, die Lederhosen mit den Strickeinsätzen, die mittelalterlich wirkenden Bundhosen findet die eine cool, der andere albern. Dass seine Mode doch nicht für „everyone“ ist, wie Telfar gerne sagt, zeigte sich schon daran, dass die VIP’s, unter ihnen Solange Knowles, um den noch unabgeräumten Tisch vom exklusiven Dinner des Vorabends saßen, der den Models nun als Laufsteg diente. Die anderen handgezählten Gäste durften nur mit großem Abstand drumherum sitzen und zuschauen. Die Präsentation war wie ein Sinnbild des Inner Circles, aus dem diese Mode entstanden ist. Insofern war sie mindestens, was das Thema Ausgrenzung angeht, dann doch ziemlich auf der Höhe der Zeit.

Grandpa als Vorbild

 

 
 

Die Rückkehr der Eleganz lässt sich durchaus als Zeichen verstehen, dass soziale Distinktion nach Jahren angeblicher Streetwear-Demokratisierung der Mode wieder gewünscht ist. Der diskrete Charme der Bourgeoisie hat bei den Damen schon länger Einzug gehalten. Nur um das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Hedi Slimanes Sommerkollektion für Celine macht mit Faltenrock und Schluppenbluse alle Frauen zu höheren Töchtern, die scheinbar im Fundus ihrer wohlhabenden Großmutter gekramt haben. Nun haben auch die Jungmänner den Grandpa als Role Model entdeckt. Spätestens die Pitti macht das deutlich. Mit Sneakern und Jogginghosen aufgewachsen, scheinen sie nach etwas Neuem zu suchen, um sich vom Dad abzugrenzen, der zumindest in der Freizeit oft längst optisch zum großen Bruder geworden ist. Der „Grandpa Look“ ist also das Thema der Stunde für sie. „Futuro Maschile“ nennt sich eine der Hallen auf der Pitti. Ahnenbilder fescher, reiferer Herren schmücken nicht wenige Stände dort, Perserteppiche und dunkles Mobiliar vervollkommnen die Atmosphäre bürgerlicher Gediegenheit. Auf den Bügeln hängen Zweireiher, Westen und Hosen aus feinen Wollstöffchen oder aus Cord, ganz breit oder samtig. Glenchek, Hahnentritt und vor allen Dingen Karos bestimmen das Bild. Die Farbpalette ist erdverbunden: Gebranntes Orange, Maisgelb, Wollweiss, Beige. Das neue Biedermeier lässt grüßen. „Futuro Maschile“ bedeutet also auch „zurück in die Zukunft“. Aber natürlich läuft das Rad der Mode nicht einfach rückwärts. Erstens: Die auf den ersten Blick mitunter etwas kratzig wirkenden Wollstoffe sind, in die Hand genommen, dank neuer Materialmischungen meist überraschend leicht und kuschelig. Zweitens muss Grandpas Styling ja nicht eins zu eins kopiert werden. Die sogenannten „Broken Suits“ stehen dafür beispielhaft. Es sind Anzüge, die sich variieren lassen. Es gibt sie mit eng geschnittenen oder – modischer! – weiter geschnittenen Hosen. Alternativ zum Jacket wird auch ein Blouson im gleichen Stoff angeboten. Ein Anzug, viele Möglichkeiten. Überhaupt entscheidet das Styling, ob ein Look wie aus der Mottenkiste oder frisch und modern wirkt. Die Kombination von Karos und Streifen, vom Lederschuh zu kurzer Sporthose und Sakko etwa würden den Großvater vermutlich überraschen.

In Mailand setzen die Schauen der großen italienischen Labels den Blick auf den Männermode-Herbst inzwischen fort. Ermenegildo Zegnas Chefdesigner Alessandro Sartori thematisierte, wie auch viele Pitti Aussteller, besonders überzeugend die Problematik der Verschwendung und der Nachhaltigkeit in der Modeindustrie durch eine Laufsteg-Installation: Stoffbänder von insgesamt 37 Kilometer Länge hingen von der Decke, Reste aus den letzen 6 Zegna Kollektionen. Ein Teil der neuen Kollektion besteht aus recyceltem Stoff, die Materialverschwendung soll perspektivisch von 50 auf 10 Prozent gesenkt werden, so das Versprechen. Der Anzug, der die Schau eröffnete, und viele weitere bestätigten mit ihrem Moiré-Effekt das Thema „New Formal“. Auch Dolce & Gabbana Emporio Armani oder Alexander Mc Queen sind ihm auf ihre Art mit Tweedstoffen, Karos altväterlichen Bundfalten und viel Wolle auf der Spur.

Erschienen in der Berliner Zeitung
https://www.berliner-zeitung.de/stil-individualitaet/florenz-und-mailand-verpassen-dem-zweiteiler-eine-neue-dynamik-li.4786