Trend Ohrensessel – Status und Komfort

Sind Individualisierung, Vereinzelung und Selbstdarstellung ein Merkmal unserer Zeit!? Dann brächte ein Selfie im Ohrensessel dieses Lebensgefühl auf den Punkt. Wie auf einer Insel im Raum, abgeschirmt und weich gepolstert, kann man sich in diesen Sesseln mit dem hohen Rücken aristokratisch niederlassen oder selbstvergessen fläzen.

Als sich Ohrensessel in Herrenhäusern und Schlössern Ende des 17. Jahrhunderts zunächst in Frankreich und England, dann in Deutschland zum Beispiel in den Schlössern der vielen Friedrichs gewissermaßen breit machten, ging es um Bequemlichkeit und Repräsentation. Das Barock war eine prosperierende Epoche, wachsender Wohlstand wurde gerne zu Schau gestellt, führte aber auch zum Wunsch nach mehr Komfort, erklärt Dr. Henriette Graf, Kustodin und Möbelhistorikerin bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. „Das A & O war die Polsterung“ erklärt die Expertin. Vorläufer der Sessel waren Sitzmöbel mit losen Kissen, mit Nägeln befestigte Polster machten den Ohrensessel dann zum beliebten Luxusobjekt mit Wellnessfaktor. Nichts war feinen Herrschaften gut genug für ihre Polster, verwendet wurden Seide, Damast, Brokat oder – Höhepunkt der Eleganz – Lampas. Die Polsterung einer Sitzgarnitur, bestehend aus fünf Sesseln und einem Sofa, im Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten würde heute 500 000 Euro kosten. Das spezielle Webverfahren mit zusätzlichen Schussfäden, die Seiden-, Gold- und Silberfäden haben, hatten eben ihren Preis.

Die Klassiker aus den 50ern haben Maßstäbe gesetzt

 

Seit seiner „Erfindung“ ist der Ohrensessel nicht wirklich aus der Mode gekommen. Vielleicht hatte er zeitweilig einen etwas altväterlichen Ruf, aber spätestens mit dem Eg Chair von Arne Jacobsen von 1958 oder dem Eames Lounge Chair von 1956, die im Hause hat, wer designmäßig Flagge zeigen möchte, ist der Ohrensessel bis heute zum Möbel geworden, das Komfort und Repräsentation aufs Angenehmste miteinander verbindet. Die Designklassiker aus den 50ern sind nämlich ohne Frage kostspielige Statussymbole und dabei ziemlich bequem. Sie haben Maßstäbe gesetzt. Es ist wohl nicht unfair zu behaupten, dass alle Sessel, die nach ihnen entworfen wurden, sich an ihnen messen müssen. Das ist eine Herausforderung, die aktuell viele Designer annehmen. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl neuer Sessel in allen Preislagen entstanden, die dazu einladen, es sich in ihnen gemütlich zu machen. Gerade im Herbst eine einladende Idee. Während früher die hohen, oft gerundeten Lehnen mit den Ohren dazu dienten, Zug von hinten abzuhalten und Kaminwärme vorne einzufangen, haben sie heute eher ein beruhigendes Moment. Sie schotten ab, halten vielleicht auch störende Geräusche fern und helfen bei der Selbstbesinnung. Die Polsterung sollte immer noch schön weich und kuschelig sein, Wolle, Samt oder Leder, eher weniger Seide und Brokat, sind die bevorzugten Materialen. Holz für die Konstruktion ist oft genug abgelöst durch Kunststoffschalen, Füße werden aus Metall gefertigt. Und auch für den Garten, der im Sommer immer mehr zum alternativen Wohnzimmer mit entsprechender Möblierung wird, gibt es wetterfeste Modelle.

 

 

Der Ohrensessel ist ein Möbel der Vereinzelung, in das man sich zurückzieht, um einfach in die Luft zu gucken oder auf Buch, Reader, Laptop oder Smartphone. Die modernen Sessel sind groß und skulptural, schöne Objekte im Raum, um sie zu einer Sitzgruppe zusammenzustellen allerdings weniger geeignet und gedacht. Die Ausnahme bildeten die sogenannten Chesterfield Möbel – es gibt Sofas und Sessel. Charakteristisch ist ihr in ein Rautenmuster in Falten gelegtes Leder, dass mit Lederknöpfen auf dem Rahmen befestigt wird. Um 1770 wurden sie vom Graf von Chesterfield Philip Dormer Stanhope bei Robert Adams in Auftrag gegeben. Der Graf wollte eine Alternative zur damals üblichen Chaiselongue, auf der man mehr lag als saß. In den Chesterfield Sofas und Sesseln konnte man bequem aufrecht sitzen und in den damals verbreiteten Debatierclubs diskutieren. Das tat man damals häufig und bis dahin im Stehen. Wir befinden uns schließlich in der Zeit der Aufklärung. In Europa kündigte sich die Französische Revolution an. Schon 1776 erklärten die 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit von England, bildeten ab jetzt die Vereinigten Staaten von Amerika und gaben sich die bis heute gültige Verfassung. Man sollte dem Ohrensessel keine revolutionäre Kraft andichten, aber seine Geschichte ist doch facettenreicher als man denken würde. In Potsdam und Berlin kann man im Neuen Palais oder dem Schloss Charlottenburg wunderbare Exemplare aus friderizianischer Zeit entdecken, in Schloss Glienicke oder im Neuen Pavillon klassizistische Beispiele von Schinkel. Der vielfach prämierte Berliner Designer Werner Aisslinger hat für Desede Ohrensessel, neudeutsch Lounge Chairs, entworfen. Für einen Designer sind sie eine spannende Herausforderung erklärt er, weil sie als Objekte im Raum wirklich von allen Seiten prüfenden Blicken standhalten müssen. Nicht aus der Mode kommen sie, weil sie ein zutiefst menschliches Bedürfnis erfüllen: Unter Leuten zu sein und trotzdem sein Ding machen zu können. Früher verband man mit dem Ohrensessel den Pfeife rauchenden, lesenden Opa, um den die Familie wuselte, im Lounge Chair sitzt der Kopfhörer tragende Hipster mit dem Laptop – zu Hause oder etwa in der der Hotel-Lobby. Das Setting hat sich verändert, die Menschen bleiben gleich. Seinen ganz privaten Ohrensessel würde Aisslinger am liebsten auf einer Dachterrasse aufstellen mit Blick über die Dächer von Berlin.

Erschienen in der Berliner Zeitung
https://www.berliner-zeitung.de/stil-individualitaet/wir-sind-ganz-ohr-li.4224