Perfekt unperfekt

Unperfekte Keramik mit Ecken und Kanten liegt im Trend, Labels wie Motel a Miio profitieren davon. Doch nicht alles, was nach Handarbeit aussieht, ist per Hand gefertigt.

 

Bild bitte anklicken und zum Text auf ZEITmagazin ONLINE gelangen oder unten weiter lesen

 

Foto: Motel a Miio

www.motelamiio.com

 

Es ist schon ein paar Jahre her, dass Sterne-Restaurants begannen, das Filet vom Charolais-Rind oder die geflämmte Gelbflossenmakrele an Basilikum-Emulsion auf rustikaler Keramik anzurichten. Teller, Tassen oder Schüsseln waren und sind in diesen edlen Gaststätten selbstverständlich so „handmade“ wie die Speisen selbst. Allerdings, während die Gerichte in höchster Perfektion serviert werden, liegt der Reiz der trendigen Keramik gerade in kleinen Unregelmäßigkeiten in Form und Glasur. Von den Sterneküchen ist die Keramik einen bisher ungebrochenenen Siegeszug angetreten: Schnell wurde das unperfekte Geschirr zu einem „Must-have“ auch in nicht ganz so ambitionierten Restaurants und nicht zuletzt zuhause. Das Rustikale, vordergründig nicht so Perfekte, das Individuelle, traf den Geist der Zeit. Und trifft ihn immer noch. Pottery ist kein kurzlebiger Trend. Sie passt ins Landhaus und auf Fincas, in Altbauwohnungen und lichtdurchflutete Penthäuser, kontrastiert in ihrer Handwerklichkeit apart mit Industrial- Look und gibt minimalistischen Einrichtungen heimeliges Flair. Mit Tassen, Tellern, Schüsseln und Vasen, die aussehen, als habe man sie aus einer kleinen Töpferei in einem Mittelmeer-Fischerdorf entdeckt, wird zu Hause in Köln, Hamburg oder Erfurt ein Bühnenbild gelebten Lebens kreiert. Die nicht ganz runde Form, der scheinbar verbogene Henkel und die unebene Glasur erzählen von einer bewegten Biographie der Dinge und der Menschen, die sie erschaffen haben. 

Ein Erfolgsmodell

 

Einer der wohl größten Vorantreiber und Gewinner dieses Trends ist das deutsche Keramiklabel Motel a Miio. Motel a Miio ist es gelungen, zu einem Lifestyle-Label zu werden und ein Lebensgefühl zu verkörpern. Urlaubsfeeling sollen die Produkte nach Hause bringen – das ist die Botschaft etwa auf dem Instagram-Account, der fast 170.000 Follower hat. Teil des Erfolgs der beiden deutschen Gründerinnen Laura Castien und Anna von Hellberg ist ohne Frage das perfekte Marketing mit perfekter Story: Zwei patente Münchnerinnen aus der Kreativbranche verlieben sich im Portugalurlaub beim Tapas-Essen in die formschönen Teller – und entwickeln daraus genau zum richtigen Zeitpunkt eine Businessidee. „Besonders schön ist, dass sich für unser Geschirr auch junge Leute begeistern. Die wünschen sich das zum Beispiel zum Geburtstag. Lange Zeit war Geschirr doch völlig uninteressant und so altmodisch wie der Gedanke an eine Aussteuer zur Hochzeit“, sagt Anna von Hellberg. Zentral bei Motel a Miio ist natürlich noch die Botschaft, dass Handarbeit im Spiel ist. Tatsächlich ist die Produktion mittlerweile zu groß, als das jeder Teller vom Töpfer auf der Scheibe gedreht werden könnte, aber geschliffen, lasiert und bemalt wird tatsächlich noch per Hand – und das sieht man. Der Motel-a-Miio-Style trifft genau den Nerv der Zielgruppe, die auch eine Monstera auf dem Dielenboden des Wohnzimmers stehen hat und ihr Gemüse am liebsten selber zieht. Mit der großen Stückzahl und der Produktion in Portugal sind die Produkte nicht billig, aber auch nicht sündhaft teuer. Das 16-teilige Set Melides in navygreen mit jeweils vier großen und kleinen Tellern, Pastatellern und Müslischalen kostet zum Beispiel 349 Euro. Ein Kaffee Becher 16 Euro. Laura Castien und Anna von Hellberg haben alles richtig gemacht, obwohl sie vorher mit Keramik nichts am Hut hatten. Laura hat als Illustratorin gearbeitet, Anna als Art Directorin Beauty und Fashion. 2016 eröffneten die beiden Unternehmerinnen den ersten Pop-up Store in München. Jetzt haben sie 12 Geschäfte in Deutschland, zwei in Österreich, demnächst eröffnet eines in Zürich. Weitere in Europa sind geplant. 

Wer möchte schon das letzte Einhorn sein?

 

Keramikgeschirr mit Ecken und Kanten, Teller, die nur fast rund sind, gibt es inzwischen auch im schwedischen Möbelhaus und bei großen Ketten, die Tisch- und Wohnaccessoires anbieten. Wenn allerdings drei Teller aus einem Set die vermeintlich der Handarbeit geschuldeten Unregelmäßigkeiten immer an genau der gleichen Stelle aufweisen, ist davon auszugehen, dass sie komplett industriell gefertigt wurden. Auch sich immer wieder holende „Fehler“ in der  Glasur oder Bemalung sind ein Beweis, dass Maschinen und nicht töpfernde Hände am Werk waren. Wird das zum Problem für „echte“ HandwerkerInnen? 

Anna Badur, vielfach ausgezeichnete Designerin und Keramikkünstlerin, kommt aus Ostfriesland, hat an der Design Academy Eindhoven studiert und ihr Atelier in Berlin. „Für mich sind die industriellen Produkte keine Konkurrenz. Meinen KundInnen können das unterscheiden. Und, wenn sie ein Unikat suchen, dann kommen sie zu mir“, ist sich Anna Badur sicher. Für einige ihrer Produkte arbeitet sie sogar bewusst mit einem industriellen Partner zusammen. Sie nutzt die Vorzüge, die die Fertigung mit besonders heißen Öfen und speziellen Verfahren hat, für ihre Entwürfe. Die künstlerischen Unterglasurtechniken ihrer Teller, Becher und kleinen Schalen kommen auf perfektem Porzellan, das einen besonderen Weißton hat, mit einer besonderen Tiefe zur Geltung. Trotzdem ist es keine Massenware, Dekor und Farbintensität variieren. Das Porzellan selber ließe sich in dieser Qualität nicht in einer kleinen Werkstatt brennen. Ein Speiseteller, Durchmesser 27cm kostet aus der Werkstatt Badur 46 Euro, ein großer Becher zum Beispiel 29 Euro.

Die meisten Menschen sind sich bewusst, dass Keramik, die zu kleinsten Preisen in großen Stückzahlen angeboten wird, nicht individuell von Hand gemacht sein kann, also Massenware ist. Der Beliebtheit tut das keinen Abbruch. Der Mensch möchte besonders sein, aber doch auch einer Gruppe zugehören. In der Psychologie spricht man vom „Need for Uniqueness“. Beim einen ist das Bedürfnis nach Einzigartigkeit mehr, bei der anderen weniger ausgeprägt. Die Wenigsten allerdings wären glücklich, wenn sie ganz und gar einzigartig wären. Wer möchte schon das letzte Einhorn sein? Tatsächlich scheint der Wunsch nach Individualität aber in den letzten Jahrzehnten gestiegen zu sein. Das Frankfurter Zukunftsinstitut bezeichnet „Individualisierung“ als einen der Megatrends unserer Zeit, als „das zentrale Kulturprinzip der westlichen Welt“ mit globaler Wirkmacht. Laut Statistiken der Business-Data-Plattform Statista finden es 9 Prozent der Babyboomer wichtig, einen einzigartigen Stil zu haben, 12 Prozent der Millenials und bereits 16 Prozent Prozent der Generation Z. Marketing und Industrie haben das erkannt. Massenware, die aussieht, als ob sie von Hand gemacht sei oder vom Flohmarkt kommt, ist nur eine logische Konsumfolge. Umso besser, wenn viele auf den Trend aufspringen – so kurios das klingen mag. Sowohl das Bedürfnis nach Einmaligkeit als auch der Wunsch, Teil einer Gruppe zu sein, sind damit erfüllt. 

Mit der Keramik mag er eine neue Stufe erreicht haben, aber ganz neu ist der Individualisierungsdrang und sein Ausdruck in den Dingen, mit denen man sich umgibt, natürlich nicht. Alter Adel zeichnet sich auch dadurch aus, dass ihm neue Möbel nicht ins Schloss kommen. Möbel erbt man, man kauft sie nicht. Auch die maßgeschneiderten Hemden des englischen Lords sind an den Kragen etwas abgewetzt, das Sakko vom Butler eingetragen. Neue Dinge gelten als neureich – also ohne Tradition und Stil. Etwas von dieser Denke steckt auch im aktuellen Hang zum – scheinbar – Alten und Gebrauchten, mindestens Selbstgemachten. Glücklich kann sich schätzen, wer ein paar Erbstücke besitzt, zu denen es wirklich eine Geschichte zu erzählen gibt. Wessen Urgroßmutter kein Porträt malen ließ, wessen Oma oder Eltern in den 60ern keinen Sinn für das Design-Genie von Ray und Charles Eames hatten, kann sich anders helfen. Keine Home-Story, in der die Designerin oder der Schauspieler nicht berichtet, wie er oder sie auf den Marchés aux Puces in Paris oder auch in Shanghai dieses oder jenes besondere Stück entdeckt hat. Wem das zu anstrengend oder zu aufwändig ist, wird im edlen Geschäft für Vintage-Möbel schneller fündig, preiswerter in Möbeldiscountern, die längst auf den Vintage- und Hand-made-Zug aufgesprungen sind. Den Used Look in der Mode haben schon die zerrissenen Jeans in den 80ern populär gemacht. Diesel–Gründer Renzo Rosso will sein Imperium auf der Idee aufgebaut haben. Dabei machte nicht langes Tragen, also gewissermaßen Handarbeit, sondern maschinelle Bearbeitung, Sandstrahlen und vielfaches Waschen, den verwegenen Look möglich. Viel angesagter als massengefertigte Jeans sind inzwischen Vintage-Kleidungsstücke. Einige Hersteller laden zum „Archiv-Verkauf“ ein und bringen Kleider aus der vorvorletzten Saison an den Mann und die Frau. Das Versprechen: Letztmalig lässt sich etwas Einmaliges aus einer anderen Zeit ergattern. Der letzte Schrei stammt plötzlich aus der Mottenkiste. Weil er, wie die unperfekten Teller und Schalen aus der Töpferei, suggeriert, eine Geschichte zu haben.

Die Industrie denkt sich immer neue Wege aus, dem Trend zur Individualisierung mit ihren eignenen Spielregeln der Masse zu begegnen. Nun machen 3D-Drucker neue Fertigungsverfahren und Produkte möglich. Wahrscheinlich sogar bald das wirklich individuelle Keramikset, mit Ecken und Kanten an vorher eigens ausgewählten Stellen.

Das Frankfurter Zukunftsinstitut bezeichnet Individualisierung als einen der Megatrends unserer Zeit, als „das zentrale Kulturprinzip der westlichen Welt“ mit globaler Wirkmacht. Dieses Bedürfnis zeigt sich bis in die kleinsten Bereiche des Lebens. Handgefertigtes Keramikgeschirr ist zum Beispiel
ist ein großer Trend. Der Reiz liegt gerade in den Unregelmäßigkeiten in Form und Glasur. Das nicht so Perfekte, eben das Individuelle, trifft den Geist der Zeit. Marketing und Industrie haben das erkannt. Teller, die nur fast rund sind, gibt es inzwischen sozusagen an jeder Ecke. Es ist allerdings industriell gefertigte Massenware, ihrer Beliebtheit tut das jedoch keinen Abbruch. Der Mensch möchte nämlich besonders sein und auch einer Gruppe zugehören. Also umso besser,wenn viele das Gleiche, scheinbar einzigartige haben. Möbel im Shabby Chic, auf alt gemacht mit verblichener Farbe, suggerieren auch dieses Besondere, bringen den Touch gelebten Lebens in die Wohnung. Vielleicht begann alles mit dem Used Look der Jeans in den 80ern. Nicht langes Tragen, sondern maschinelle Bearbeitung machte den verwegenen Look für Feierabend-Cowboys möglich. Viel angesagter sind heute Vintage-Kleidungsstücke. Es gibt sogenannte „Archiv-Verkäufe“ mit Kleidern aus der vorvorletzten Saison. Der letzte Schrei stammt plötzlich aus der Mottenkiste,
weil er Geschichte hat oder vielleicht auch nur suggeriert zu haben. Spannend zu beobachten ist, wie es der Industrie gelingt, tatsächlich personalisierte, Produkte in großer Menge herzustellen. Bei Sneakers ist die eigene Zusammenstellung von Farben und Schriftzügen schon gang und gäbe. Burberry, Luis Vuitton und andere Luxushersteller machen es den Kundinnen möglich, Schals oder Handtaschen mit individuellen Logos oder Patches ganz zu ihren eigenen zu machen.
Auch 3D-Drucker werden die Welt der Dinge verändern. Sie machen neue Fertigungsverfahren für Menschen und Marken möglich. Wahrscheinlich sogar das wirklich individuelle Keramikservice im ganz eigenem, eigenwilligen Design.